Atombomben zünden im eigenen Land? Ganze Bergketten pulverisieren für eine Autobahn? Oder gleich einen Durchbruch vom Atlantik zum Pazifischen Ozean mit einigen Nuklearexplosionen graben und dafür Millionen Menschen umsiedeln? Klingt absurd. Und doch gab es in der Zeit des Kalten Krieges in der Sowjetunion und den USA ernstzunehmende Überlegungen dazu. Autor: Markus Mähner (BR 2025)
Credits
Autor: dieser Folge: Markus Mähner
Es sprachen: Burchard Dabinnus, Hemma Michel, Friedrich Schloffer; Peter Veit
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
Geschichte:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Ein Werbefilm der Amerikanischen Atomenergiebehörde, der AEC…
AEC 2:
"The 100kT Nuclear Explosion excavated more than 6 Million cubic Yards of Earth in a Matter of Seconds.
SPRECHER
Er beschreibt begeistert, wie in nur wenigen Sekunden gut viereinhalb Millionen Kubikmeter Erde weggesprengt wurden.
AEC 2:
The result was a crater more than 12000 Feet in Diameter, the length of 4 Football-Fields and 325 Feet Deep - the height of a 32-storey Building. Created in less time than it takes to describe it."
SPRECHER
Ein Krater blieb, der so tief war wie ein 32-stöckiges Hochhaus!
Wie war das zu schaffen? – Die AEC schwärmt in dem Film von den Folgen eines Kernwaffentests im Testgelände Nevada vom 6. Juli 1962, dem sogenannten Project Sedan. Und diese hocheffiziente Sprengung war angeblich ohne gravierende Nebenwirkungen zu haben. Denn: 95 Prozent der freigesetzten Radioaktivität verblieben im Krater, hieß es. Die restlichen 5 Prozent seien gleich daneben niedergegangen, so die AEC.
MUSIK m01 Manhattan Project, Oppenheimer OST, Ludwig Göransson
SPRECHERIN
Die Wirklichkeit jedoch sah ein wenig anders aus: Tatsächlich war der radioaktive Niederschlag ungefähr fünfmal so hoch wie erwartet. Ein Wissenschaftler mit Studenten von der Universität Utah war zufällig genau an diesem Tag mit Geigerzählern unterwegs. Auch wenn sie über 600 Kilometer von der Sprengung entfernt waren, so war die radioaktive Belastung doch so hoch, dass sie unverzüglich in die Universität zurückkehrten.
Noch Monate später wurde – wenn auch nur geringer - radioaktiver Fallout bis in die Nähe von Chicago nachgewiesen. Über 2000 Kilometer entfernt! Heute geht man davon aus, dass durch Sedan etwa 7 Prozent der Bevölkerung der USA, also ungefähr 13 Millionen Menschen radioaktiv belastet wurden.
SPRECHER
Sedan war nur einer von vielen Kernwaffentests, die die USA im Namen der „friedlichen“ Erforschung dieser unglaublichen Kraft durchführten. Das sogenannte „Plowshare“-Programm sollte zeigen, dass man damit Häfen, Kanäle, Straßen oder Speicherseen bauen könnte.
AEC 1:
This is the peaceful potential of nuclear explosives that the US is developing for all mankind in a program it calls PLOWSHARE." - Musik
SPRECHER
„Friedliche Nukleare Sprengungen für den Nutzen der ganzen Menschheit“. Nichts weniger versprach der Werbefilm der AEC.
Kaufman 21 (Über Musik von AEC 1)
Well, I was fascinated by it because I happened to come across it while working on a different project, and I thought: This cannot be true! But it was! It's it's another example of the idea that science has all the answers, when sometimes science doesn't.
VO:
Ich bin zufällig darüber gestolpert und dachte mir: Das kann nicht wahr sein! Aber es war Wirklichkeit! Ein weiteres Beispiel für die Vorstellung, die Wissenschaft hätte Antworten auf alle Fragen. Aber so ist es einfach nicht!
SPRECHERIN
Scott Kaufmann, Historiker an der Francis Marion Universität in South Carolina, hat sich ausführlich mit dem Projekt Plowshare beschäftigt und letztlich ein ganzes Buch darüber geschrieben. Darin setzt er sich unter anderem mit seiner eigenen Verwunderung auseinander. Seiner Verwunderung darüber, wie Menschen in den 1950er und 1960er Jahren der Idee verfallen konnten, Kernwaffen im eigenen Land einzusetzen, lediglich, um Gräben – wenn auch recht große – zu graben. Eine Verwunderung, die er heute wohl mit den meisten Menschen teilt.
SPRECHER
In den Nachkriegsjahren war das anders. Damals galt die Kernenergie als verheißungsvolle Energiequelle für ein paradiesisches Zeitalter:
Kaufman 19
[...] We have to keep in mind that there was and I think still is enormous faith in science. [...] And if we look back at the 1950s, which is when Plowshare began, there was this idea that everybody would have their own private plane, that they would fly around. That we [...] would get to the moon by the end of the century and even have bases on the moon. This faith in science and what it could do for us, what it could achieve. And that's a part of Project Ploughshare: This faith in science. You tie into that Dwight Eisenhower's idea that he gave 1953 called „Atoms For Peace“:
VO:
Wir dürfen nicht vergessen: Es gibt einen starken Glauben an die Kraft der Wissenschaft. Besonders in den 1950er Jahren, als das Projekt Plowshare anfing. Man dachte: Jeder würde bald seinen Privatjet haben, man würde Mondbasen bauen. Dieser ungebremste Glaube an die Fähigkeiten der Wissenschaft spiegelt sich auch in Dwight D. Eisenhowers berühmter Rede vor den Vereinten Nationen wider, der „Atoms for Peace“-Rede von 1953:
Eisenhower:
"It is not enough to take this weapon out of the Hands of the soldiers. It must be put in the Hands of those who have the Know-how to strip its military casing and adapt it to the Acts of Peace. The United States knows that if the fearful trend of atomic military build-up can be reversed, this greatest of destructive forces can be developed into a great boon, for the benefit of all mankind.
ZITATOR
„Wir müssen diese Waffe nicht nur dem Militär wegnehmen, wir müssen ihre zerstörerische Kraft in die Hände derer legen, die sie so weiterentwickeln können, damit sie ein Segen für die gesamte Menschheit wird,…“
Kaufmann 19b
[...] So you have that in mind. And add to that the idea that this would be cheaper. It would be faster. You put it all together and you end up with this idea: yes, we can control the atom! Yes, we can make the atom do our bidding! And by doing that, we can use the atom to lead us down the path of progress, the path of modernity and do it far faster and far cheaper than by using conventional means!
VO:
Und wenn man zu diesen Gedanken auch noch die Vorstellung hinzufügt, es würde alles viel billiger und schneller machbar sein, dann kommt man schnell zu dem Schluss: Ja, wir können die Kraft des Atoms kontrollieren und ihm befehlen was es für uns zu tun hat!
MUSIK m12
SPRECHERIN
Der Glaube an die Kontrollierbarkeit einer nuklearen Kettenreaktion spiegelt sich nicht nur in Werbefilmen wie „Unser Freund, das Atom“ von Walt Disney aus dem Jahr 1956 wider:
SPRECHER
1957 nehmen die USA das erste Kernkraftwerk in Betrieb. Ein Jahr später stellt Ford Pläne für das Nucleon vor, ein mit Atomkraft betriebenes Auto. Gleichzeitig läuft die Nautilus, das erste US-Atom-U-Boot, vom Stapel.
MUSIK m05 (Los Alamos, Oppenheimer OST, Ludwig Göransson)
SPRECHERIN
Dass das Atom nicht immer nur unser Freund ist, zeigt wiederum ein Vorfall im März 1958: Ein US-Kampfjet verliert versehentlich eine Atombombe über einer kleinen Farm in South Carolina. Zwar war die Bombe nicht mit spaltbarem Material versehen; der Auslöser explodierte dennoch und hinterließ dort, wo sich einmal die Farm befand, ein 10 Meter tiefes und 25 Meter breites Loch – und einen Zweifel an den Glauben der Beherrschbarkeit des Atoms: Denn was wäre passiert, wenn die verlorene „Atombombe“ tatsächlich spaltbares Material an Bord gehabt hätte?
SPRECHER
Als der ein wenig aus dem Ruder gelaufene Kernwaffentest „Projekt Sedan“ im Juli 1962 stattfindet, ist das Projekt Plowshare schon viele Jahre alt und bereits in der Krise. Einen Monat später, im August, wird das erste Vorhaben des Plowshare-Programms offiziell als beendet erklärt: das Projekt Chariot, dessen Anfänge schon fast zehn Jahre zurückreichen. Scott Kaufman:
Kaufman 1
What they wanted to do was to build a port using nuclear explosives. And the idea was that the port would be located near coal and oil reserves, so that way the people could use the port to ship out the coal and oil.
VO:
Sie wollten einen Hafen mit Hilfe von Kernwaffen bauen. Ganz in der Nähe von Kohle- und Ölvorkommen, die dann verschifft werden sollten.
MUSIK m01 (Manhattan Project, Oppenheimer OST, Ludwig Göransson)
SPRECHERIN
Damit wollte man zeigen, welche Möglichkeiten solche Bomben für friedliche Projekte hatten. Dennoch war man sich der Gefahr der radioaktiven Strahlung wohl bewusst. Es musste also in einem wenig besiedeltem Gebiet stattfinden. Arthur Larson, stellvertretender Arbeitsminister in der Regierung Eisenhowers, hatte damals die Idee:
ZITATOR
„Warum nicht einen einigermaßen abgelegenen Ort – wie zum Beispiel Alaska – finden, der einen Hafen braucht, und die ganze Arbeit mit einer einzigen Explosion erledigen?“
SPRECHERIN
Frei nach dem Motto des damaligen US-Verteidigungsministers „Far more bang for the buck!“ - „Mehr Wums für Piepen!"
SPRECHER
Edward Teller, der „Vater der Wasserstoffbombe“ und glühendster Befürworter des Plowshare-Programms ist begeistert! Und sogleich ist auch ein Ort gefunden: Cape Thompson an der Westküste Alaskas. Einziges Problem: Die Nähe zu Russland.
Kaufman 5b
If you can't guarantee which way the wind is going to be blowing that day - what if the wind not blows from the west, but blows from the east: You're then going to have radioactivity falling over the Soviet Union, which is not that far away, and the Soviets are not going to be happy about that.
VO:
Was ist, wenn der Wind an dem Tag nicht aus Westen, sondern aus Osten weht? Dann wird Radioaktivität über der Sowjetunion niedergehen. Die ist nicht weit entfernt. Und die Sowjets werden darüber nicht erfreut sein.
SPRECHERIN
Dass in dem Gebiet auch eine indigene Bevölkerung wohnt, scheint erst einmal niemanden zu stören. Besonders nicht Edward Teller, der Zweifel darüber, ob diese weiter jagen und fischen könnten, ein für allemal aus dem Weg räumt:
MUSIK m08 (Ground Zero, Oppenheimer OST, Ludwig Göransson)
ZITATOR
„Wir interessieren uns nicht dafür, den Eskimo als Jäger zu erhalten. Wir wollen ihm die Gelegenheit verschaffen, in einer Kohlenmine zu arbeiten.“
SPRECHERIN
Um die Bevölkerung in der 30 Meilen von Cape Thompson entfernten Stadt Point Hope zu beschwichtigen, reist im August 1958 Gary Higgins dorthin, leitender Wissenschaftler des Plowshare-Programms. Er versichert den Bewohnern, die freigesetzte Radioaktivität sei ungefährlich. Es könnten lediglich einige Scheiben in ihren Häusern kaputt gehen. Und ja, die müssten sie ohnehin für so ungefähr ein Jahr verlassen – nur um sicher zu gehen. Falls irgendetwas schieflaufen würde - was eigentlich unvorstellbar sei – dürften sie selber entscheiden, ob sie zurückkehrten oder nicht.
SPRECHER
Doch Higgins spricht lediglich mit den aus den USA zugezogenen Bürgern, nicht mit den Ureinwohnern, den Inupiat – die von der AEC stark unterschätzt werden: Nicht nur schreiben sie Briefe mit Bitte um Aufklärung an die Atomenergiebehörde, sie unterrichten auch andere Indigene aus ganz Alaska, was die US-Regierung mit ihrem Land vorhat. Daraus entsteht die erste landesweite Zeitung für Indigene.
Kaufman 4
You had indigenous people, Eskimos, living in the area who said: We're very well aware of what happened to Hiroshima. We're very well aware of other accidents that have taken place with nuclear explosives, such as one near Bikini Atoll that ended up killing a Japanese sailor and injuring others because of the fallout. And they said: we have no evidence that you can do this safely. And there is no way that we are going to support this if you can't do this safely. And the opposition of those individuals in Alaska expanded to include scientists, politicians and others throughout the country. It became nationally known what the Atomic Energy Commission wanted to do and generated intense opposition.
VO:
Die Indigenen aus der Gegend sagten: Wir wissen genau, was in Hiroshima passiert ist. Wir kennen auch andere Unfälle mit nuklearen Sprengstoffen, wie zum Beispiel dem nahe des Bikini-Atolls, bei dem ein japanischer Matrose starb und andere durch den radioaktiven Niederschlag verseucht wurden. Es gibt keine Belege dafür, dass dies hier nicht passiert. Und solang dies der Fall ist, werden wir das auf keinen Fall unterstützen. Und der Widerstand dieser Indigenen in Alaska wurde landesweit bekannt und löste heftigen Widerstand in den ganzen Vereinigten Staaten aus.
SPRECHERIN
Das Problem war also größer als gedacht. Da half es auch nicht, dass die AEC bereits im Jahr 1959 – Alaska war soeben 49. Bundesstaat der USA geworden - Wissenschaftler in das Gebiet sandte, um Umweltverträglichkeitsuntersuchungen anzustellen.
Kaufman 5
The Atomic Energy Commission, the AEC, did hire scientists, local scientists, who conducted what were called bioenvironmental surveys to try to learn more about the geology, the geography, the plants, the animals, the people living in the area. And what they were discovering was if you test something like this, if you conduct this experiment it increasingly became clear you're going to have an enormous amount of fallout that is going to cause radioactive that can have enormous amount of fallout that's going to affect the plants on which the reindeer eat - the reindeer which the locals eat. It's going to get in their systems. It is going to cause immense harm to the local ecology, is going to cause immense harm to the human population. And this would be an absolute disaster.
VO:
Man wollte mehr über die Geologie, Geographie, Pflanzen, Tiere und Menschen in der Region erfahren. Dabei wurde immer deutlicher: Wenn man solche Tests durchführt, kommt es zu enormen Mengen radioaktiven Niederschlags, der von den Pflanzen aufgenommen wird. Und die werden von den Rentieren gegessen. Und die Rentiere werden von der lokalen Bevölkerung gegessen. Es wird also sowohl der lokalen Ökologie als auch der Bevölkerung enormen Schaden zufügen. Das wäre eine absolute Katastrophe.
SPRECHER
Denn die nukleare Sprengkraft, um die es hier ging, war um einiges höher als man das bisher kannte.
Kaufman 2
It started out around 500 kilotons and they reduced it to about 260 kilotons. So they kept changing the amount, but we're still talking about a huge amount of explosives. Just to give you an idea what I'm talking, what I'm explaining here: The bomb that was used in Hiroshima, Japan, that killed 100,000 people was 17 kilotons, so 17,000 tons of TNT. At Chariot we're talking about at a minimum. 260 to 280 kilotons, so many times more powerful than what was used on Japan.
VO:
Sie begannen mit einer Sprengkraft von etwa 500 Kilotonnen. Die wurde später auf etwa 260 Kilotonnen reduziert. Es handelt sich aber dennoch um eine riesige Menge Sprengstoff: Die Bombe, die in Hiroshima eingesetzt wurde und 100.000 Menschen tötete, hatte 17 Kilotonnen, also 17.000 Tonnen TNT. Bei Chariot sprechen wir von mindestens 260 bis 280 Kilotonnen, also um ein Vielfaches stärker als die Atombombe von Hiroshima.